Die geheimnisvolle Magie der Musik berührt die Seele und beflügelt den Geist, sich in fantastische Welten aufzuschwingen. Hierfür steht der Titel des neuen Ballettabends von Stephan Thoss: „Das Auge der Welt“ dringt auf drei ganz verschiedene Weisen unter die Oberfläche des Bekannten und eröffnet die Sicht auf innere Bilderwelten.
Normalerweise scheint jedem klar, worauf man sich bezieht, wenn man „Ich“ sagt. Doch nicht nur Philosophen und Hirnforscher melden vermehrt Zweifel an diesem selbstverständlichsten aller Begriffe an. Die Vorstellung von einem wahren Ich unter diversen sichtbaren ist zu einfach. „Ich“ sind Viele. Diese Erfahrung muss auch die junge Frau in der Uraufführung „heim suchen“ machen. Ihre verschiedenen Ichs kommen wie innere Geister aus Türen und Wänden und spiegeln ihr wieder, wie sie sich nicht kennt. Sie drängen sich auf und bringen Alltag und Wahrnehmung auf teils gespenstige Weise durcheinander. Bis sie ihren Frieden mit sich selbst schließen kann, muss sie die spontan empfundene Bedrohung aufweichen und Uneingestandenes akzeptieren.
Das Eintauchen in die subtile Welt der Träume ist das Thema von „Tosende Stille“. Im Niemandsland zwischen Illusion und Realität entfaltet sich Nacht für Nacht ein heimliches Leben, das auf unbekannte Art mehr von uns weiß als wir von ihm. Beim Erwachen aus dem Nachtkino bleibt oft der Wunsch, das Unzugängliche zugänglich zu machen. „Tosende Stille“ wandelt das im Dunkeln „Erlebte“ in sichtbare Bewegung und löst dabei auf faszinierende Weise den Fakt auf, dass im Grunde jeder seinen eigenen Traum träumt, dass jeder mit seinen Bildwelten allein ist. Unter schwebenden Schirmen, in einem Zwischenreich, zu dem der Verstand keinen Zugriff hat, lässt die Choreografie einen uralten Wunsch wahr werden: die Traumwelten verschiedener Menschen berühren sich und verschmelzen miteinander, wodurch eigenwillige Situationen provoziert werden.
Einen unwirklichen Blick wirft auch die letzte Choreografie des Abends: „Bolero“ – unzählige Male vertanzt und oft mit den ewig gleichen Bildern schwül-lasziver Erotik. Für Stephan Thoss ein Anreiz, leidenschaftliche Hingabe nicht schon wieder mit Jugendlichkeit und rassi-ger Schönheit zu assoziieren: Ruhig und idyllisch scheint die Welt der sechs älteren Damen zu sein, die sich da zum Kaffeekränzchen treffen. Nachdem ausführlich liebgewordenen Gewohnheiten gefrönt wurde, bringt sich die Damenrunde mit Petits Fours und Ravels Kompo-sition in Stimmung und beweist dabei überraschende Beweglichkeit. Vom Rhythmus mitgerissen zeigen die älteren Damen – bis hin zum explosiven Finale – das ewig junge Ritual der Geburt der Bewegung aus dem Geist der Musik.
Choreografien Stephan Thoss
Bühne Arne Walther, Stephan Thoss
Kostüme Stephan Thoss
Sonntag, 5. Oktober, 11.00 Uhr, Großes Haus:
tanzXtra
Einführungsmatinee zu „Das Auge der Welt“: Stephan Thoss spricht über die Premiere und zeigt Ausschnitte mit dem Ballett des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden.