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Berliner Theatertreffen 2010: „Theater-Oscars“ und Internationales Forum in Berlin

Vom 7. bis 24. Mai 2010 trifft sich die deutschsprachige Theaterszene beim

Bühnenoscar. Im Haus der Berliner Festspiele versammeln sich Regisseure und Darsteller, Theatermacher und Journalisten, Dramatiker und theaterbegeisterte Gäste aus dem In- und Ausland.

 

Auf der Suche nach den 10 bemerkenswerten Inszenierungen der Spielzeit reiste die Kritikerjury ein Jahr lang durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Über 350 Stücke sichteten die Juroren in den Metropolen und in der Provinz. Fündig wurden sie in Berlin, Graz, Hamburg, Köln, München und Wien. Damit ist Österreich mit vier nominierten Produktionen der große Gewinner dieses Jahrgangs.

 

Deutschlands wichtigstes Theaterfestival versammelt das Who is Who der Regisseure: Karin Beier, Stephan Kimmig, Andreas Kriegenburg, Luk Perceval, Nicolas Stemann. Erstmals stellt das Theatertreffen die bemerkenswerten deutschsprachigen Inszenierungen im internationalen Kontext vor: Der 31-jährige Ungar Viktor Bodó hat mit seinerBearbeitung von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ ein kleines Theaterwunder vollbracht. Die junge „Szputnyik Shipping Company“ aus Budapest setzt in dieser Koproduktion mit dem Grazer Schauspiel 100 Minuten blanke Spiellust frei: eine hinreißend choreographierte multimediale Symphonie der Großstadt.

 

Überraschend ist auch die Einladung des Künstlerduos Kelly Copper und Pavol Liska mit dem New Yorker „Nature Theater of Oklahoma“. In Zusammenarbeit mit dem Wiener Burgtheater haben sie mit „Life and Times – Episode 1“ ein herrlich schräges Musical komponiert. In der Regie des holländisch-flämischen Künstlerduos Johan Simons und Paul Koek wird aus „Kasimir und Karoline“ ein Stück energiegeladenes Musiktheater. Diese Inszenierung vom Schauspiel Köln lässt die heutige Zeit spüren – jenseits jeglicher Folklore. Mit seiner 14. Einladung ist der Schweizer Christoph Marthaler Stammgast beim Bestentreffen. Sein Stillstandstheater zur Wirtschaftskrise „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ erlangte bereits Kultstatus.

 

Das dichte Festivalprogramm ist 2010 geprägt von Gegenwartsdramatik, Film- und Romanadaptionen, lebensweltbezogenen Projekten und performativen Inszenierungen. Garantiert ist hochkarätiges Schauspielertheater mit: Daniel Hoevels, Judith Hofmann, Christoph Homberger, Jürg Kienberger, Hans Kremer, Barbara Nüsse, Annette Paulmann, Christiane von Poelnitz, Falk Rockstroh, Lars Rudolph, Maria Schrader, Bernd Stempel, Bettina Stucky, Victoria Trauttmansdorff, Julia Wieninger, Susanne Wolff, Patrycia Ziolkowska u.a.

 

Neben den großen Gastspielen gewinnen die drei Talente-Plattformen beim

Theatertreffen immer mehr an Bedeutung. Der Stückemarkt für Gegenwartsdramatik ist ein Karrieresprungbrett für noch unentdeckte Dramatiker aus ganz Europa und fördert seine Autoren nachhaltig. Junge Theatertalente aus aller Welt tauschen sich beim Internationalen Forum mit erfahrenen Theatermachern aus. Das Theatertreffen-Blog bietet ambitionierten Nachwuchs-Journalisten die Chance, sich im Bereich des Online-

Feuilletons zu profilieren. Darüber hinaus lockt ein reiches Rahmenprogramm mit Diskussionen, Preisverleihungen, Konzerten und Partys ins Haus der Berliner Festspiele.

 

Die Auswahl 2010:

 

· Deutsches Theater Berlin, Regie Andreas Kriegenburg: „Diebe“ von Dea Loher

 

· Schauspielhaus Graz, Regie Victor Bodó: „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke, Bearbeitung Viktor Bodó

 

· Thalia Theater, Hamburg, Regie Stephan Kimmig: „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly

 

· Thalia Theater, Hamburg in Koproduktion mit Schauspiel Köln, Regie Nicolas Stemann: „Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie“ von Elfriede Jelinek

 

· Schauspiel Köln, Regie Karin Beier: „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ von Ettore Scola und Ruggero Maccari

 

· Schauspiel Köln, Regie Johan Simons, Paul Koek: „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth. Koproduktion NT Gent und De Veenfabriek

 

· Münchner Kammerspiele, Regie Luk Perceval: „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada

 

· Burgtheater, Wien, Konzept und Regie Kelly Copper & Pavol Liska / Nature Theater of Oklahoma: „Life and Times – Episode 1“

 

· Burgtheater, Wien, Regie Roland Schimmelpfennig: „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig

 

· Wiener Festwochen, Regie Christoph Marthaler: „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“, Ein Projekt von Christoph Marthaler und Anna Viebrock

 

Zur Jury gehören in diesem Jahr die Theaterkritikerinnen und -kritiker Eva Behrendt, Jürgen Berger, Wolfgang Höbel, Stefan Keim, Ellinor Landmann, Andres Müry und Christopher Schmidt.

 

„Anhand der nominierten Produktionen wird deutlich,“ so Iris Laufenberg, Leiterin des Theatertreffens, „dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft nicht nur internationale Koproduktionen und länderübergreifend arbeitende Regisseure immer selbstverständlicher werden, sondern dass diese zunehmend auch von Projekten geprägt ist, die bereits in einem internationalen Kontext entstehen, wie Die Stunde da wir nichts voneinander wußten in der Bearbeitung von Victor Bodó in Zusammenarbeit mit der Sputnik Shipping Company Budapest oder Life and Times des Nature Theater of Oklahoma.“

 

Das Theatertreffen 2010 wird offiziell am Freitag, den 7. Mai 2010, im Haus der Berliner Festspiele eröffnet. Neben den 10 ausgewählten Inszenierungen wird ein vielfältiges Rahmenprogramm mit Diskussionen, Preisverleihungen, Konzerten, Partys die deutschsprachigen und internationalen Gäste in das Haus der Berliner Festspiele locken. Die Talente-Plattformen des Theatertreffens – der Stückemarkt mit szenischen Lesungen neuer europäischer Stücke, das Internationale Forum und das Theatertreffen-Blog – bieten Gelegenheit zum Austausch für junge Theaterleute aus dem In- und Ausland.

 

Die Zusammenarbeit mit 3sat und dem ZDFtheaterkanal geht in ihr erfolgreiches 15. Jahr, wieder werden einige der ausgewählten Inszenierungen im Mai in 3sat ausgestrahlt. Bereits zum 14. Mal wird im Rahmen des Theatertreffens der 3sat-Preis verliehen.

 

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Internationales Forum / Theatertreffen 2010

„Die Welt um acht. Wirklichkeiten vorstellen“

 

Zum 46. Mal wird das Theatertreffen zum Forum für Theatermacher aus aller Welt. Unter dem Motto „Die Welt um acht. Wirklichkeiten vorstellen“ stehen 2010 zwei Fragen im Mittelpunkt des Workshop-Programms: Wie kann das Theater Welt verhandeln? Und welche Wirklichkeiten entstehen durch die Kunst des Theaters? Die vier Workshops von herausragenden Künstlern verfolgen dabei völlig verschiedene gegenwärtige Arbeitsweisen:

 

Workshop 1 THEATER MACHEN!

 

Geleitet von Mustafa und Övül Avkiran, Direktoren der freien Spielstätte garajistanbul in Istanbul. Sie inszenieren und spielen dort Stücke, die im Spannungsfeld gesellschaftlicher Auseinandersetzung entstehen.

 

Workshop 2 MONEY – IT CAME FROM OUTER SPACE

 

Geleitet von Chris Kondek und Christiane Kühl

Der Videokünstler arbeitet mit herausragenden Schauspiel- und Opernregisseuren. Zusammen mit der Dramaturgin Christiane Kühl realisiert er Performances mit Hilfe von Internet und Livestream.

 

Workshop 3 HISTORY COUNTS

 

Geleitet von Hans-Werner Kroesinger

Der derzeit bekannteste Dokumentartheater-Regisseur und Autor Hans-Werner Kroesinger recherchiert brisante zeitgeschichtliche Stoffe für seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen.

 

Workshop 4 THEATER, DIE STADT UND DAS STÄDTISCHE

 

Geleitet von Ivo Kuyl und Ruud Gielens

Ivo Kuyl, Dramaturg am Königlich-Flämischen Theater in Brüssel, und der Regisseur und Schauspieler Ruud Gielens setzen sich mit den im Wandel begriffenen urbanen Gesellschaften des Westens auseinander.

 

Insgesamt 43 Regisseure, Schauspieler und Autoren von vier Kontinenten, aus zwanzig Ländern werden nach Berlin reisen, um in einer gemeinsamen, künstlerischen Praxis zu forschen, zu diskutieren und feiern. Sie kommen aus zwölf verschiedenen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, sowie aus Simbabwe, Kasachstan, Ägypten, Lettland, Bulgarien, Niederlande, Griechenland, Schweden, Slowenien, England, USA, Tschechische Republik, Argentinien, Island, Slowenien, Togo und China.

 

Das Internationale Forum findet anlässlich und im Rahmen des Theatertreffens statt. Außer der Teilnahme an den Workshops haben die Stipendiaten die Möglichkeit die zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen zu sehen, was die Grundlage ihrer Diskussionen und Arbeit im Forum ist.

 

Weitere Informationen zum Internationalen Forum unter www.internationales-forum.de.

 

Seit 2004 wird das Theatertreffen gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

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Kurztexte zu den ausgewählten Inszenierungen des Berliner Theatertreffens:

 

Deutsches Theater Berlin, Regie Andreas Kriegenburg: „Diebe“ von Dea Loher

Uraufführung 15. Januar 2010

 

Wenn das Leben schon tödlich endet, sollte man seine komischen Seiten nicht außer Acht lassen, mag Dea Loher sich gedacht haben, als sie sich mit so verqueren Figuren wie dem Ehepaar Schmitt beschäftigte. Die ängstlichen Spießbürger fühlen sich von allem und jedem bedroht und bunkern sich in ihren vier Wänden ein. Plötzlich allerdings steht dieser Mann in ihrer Wohnung und erinnert den verdutzten Herrn Schmitt daran, dass er in Studentenjahren ein tüchtiger Samenspender war. Diese und andere komische Katastrophen aus dem misslingenden Leben versammelt Dea Loher in über dreißig pointierten Szenen und fügt sie zu einem tragikomischen Panorama. In Andreas Kriegenburg hat sie einen kongenialen Partner, der ihren Menschenzoo von einem Mühlrad auf die Bühne schaufeln lässt. Da stehen sie dann und wissen nicht so recht, ob sie nun lachen oder vorsorglich doch lieber weinen sollten.

 

Schauspielhaus Graz, Regie Victor Bodó: „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke, Bearbeitung Viktor Bodó

Premiere 14. Mai 2009

 

Eine südliche Piazza im hellen Licht, hunderte Personen ziehen vorüber und werden dem Dichter zu Figuren seines poetischen Welttheaters: Das ist die Idee von Peter Handkes stummem Spiel „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“. Die beschauliche, gleichsam interesselose Phantasie setzt der temperamentvolle ungarische Theatermacher Viktor Bodó dem Säurebad einer chaotischen Metropole aus. Die Bühne: eine gesichtslose Fußgängerzone zwischen fahrbaren Container-Buden. Ein schmutziges, enges Café versammelt allmorgendlich dasselbe Dutzend Passanten, die Zeugen eines mysteriösen Verkehrsunfalls werden. Ein Video-Kamerateam folgt den einzelnen als „Ermittler“ bis nach Hause und liefert Puzzleteile einer Geschichte, die uns wortlos in ihren Bann zieht, ohne dass wir die Klärung des Falls vermissten. Bodó setzt in dieser Koproduktion des Grazer Schauspiels und der Sputnik Shipping Company aus Budapest hundert Minuten lang die pure Spiellust frei: eine hinreißend choreographierte multimediale Symphonie der Großstadt, in der sich Pina Bausch und Jacques Tati selig vermählen.

 

Thalia Theater, Hamburg, Regie Stephan Kimmig: „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly

Premiere 21. März 2009

 

Von den individuellen psychischen Deformationen, die das ökonomische Rattenrennen so mit sich bringt, handelt das Stück, das zwar schon ein paar Jahre alt, aber trotzdem ein Stück zur aktuellen Krise ist. Erzählt wird in Zeitsprüngen, quasi rückwärts, die Geschichte einer Liebe, die mit einer Art Mord endet: Aus blanker Geldgeilheit sieht der männliche Protagonist David seiner Gattin Jess beim Sterben an einer Überdosis Schlaftabletten zu und hilft mit Schnaps noch ein bisschen nach. Die holzschnitthaften Szenen über Raffgier, sexuelle Prostitution und grobe menschliche Rücksichtslosigkeit gewinnen durch die innig ineinander verkeilten Darsteller Susanne Wolff und Daniel Hoevels eine irritierende Zwangsläufigkeit. Ort der Handlung ist ein kleinbürgerlicher Käfig, der ein bisschen wie ein High-Tech-Klettergerüst aussieht; das Eigenheim des Paares. Alle Menschen drumherum, die Eltern des Mädchens, der Chef des Mannes, benehmen sich wie schwer gestörte Zombies. Kimmig zeigt die perversen Ausfälle dieser seltsamen Gesellschaft so beiläufig und gerissen unspektakulär, als sei’s der Normalfall, anderer Leute Gräber zu schänden oder sich anderer Leute Kaugummis in den Mund zu stecken. Ein Krisentheaterabend zum Fürchten.

 

Thalia Theater, Hamburg in Koproduktion mit Schauspiel Köln, Regie Nicolas Stemann: „Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie“ von Elfriede Jelinek

Uraufführung 16. April 2009

 

Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen unter den Theaterzuschauern in dieser unerwartet vergnüglichen Aufführung, die beweisen will, was viele wissen: dass der Kapitalismus böse ist. Der Regisseur Nicolas Stemann agiert hier als Fast-Alleinunterhalter auch auf der Bühne virtuos an Mikrofon und Flügel, und er erlaubt sowohl den Zuschauern als auch den Schauspielern die Flucht ins Offene. Jeder Akteur gibt sich und dem Publikum soviel von Jelineks Text, wie er will. „Die meisten Theaterleute, die ich kenne, egal ob Regisseure, Autoren oder Schauspieler, sind von Angst beherrscht. Das ist verständlich, aber nicht gut!“, verkündet Stemann im Programmheft. Und ruft ein angstfreies Theater aus, das ein Angebot zum Denken und zum Schauen sein will, ein Scheitern und Triumphieren in der Textwiedergabekunst und ein Kunst-Raum zum Durchatmen und Den-Kopf-Auslüften. Die Bühne ist ein großer Verhau aus Flügel und Sessel und Sofa und einer elektronischen Anzeige, auf der jeweils die Anzahl der Seiten zu sehen ist, die alle im Theater Versammelten an Jelinek-Text noch gemeinsam vor sich haben. Und während der Countdown von Seite 99 bis Seite 1 ausgerufen wird, entsteht auf einer doch eher freudlosen Textgrundlage zum Thema Ausbeutung und Menschenverachtung und Geldgier ein packendes Entertainment-Spektakel.

 

Schauspiel Köln, Regie Karin Beier: „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ von Ettore Scola und Ruggero Maccari

Premiere 8. Januar 2010

 

Schauspieler hinter Glas. Was in dem breiten Wohncontainer geschieht, ist nur zu sehen, kaum zu hören. Nur wenn sich mal eine Tür öffnet, dringen Worte heraus. Meistens nur „Tür zu!“ In Ettore Scolas Unterschichten-Kinokomödie „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ war die Kamera nah dran. Karin Beier bricht den Blick des Publikums, macht den Voyeurismus zum Thema, die Wahrnehmung des Prekariats, wie es sich in den vielen Shows des Privatfernsehens entblößt. Alle sind hinter dem Geld her. Wenn Oma Rente bekommt, wird sie von der Familie geplündert, und alle gehen einkaufen. Verzweiflung schlägt um in die Groteske, der Familientyrann ist nicht einmal mit Rattengift umzubringen, und seine Frau, die verhinderte Mörderin, lacht. Ein Höllenlachen, bitter, hoffnungslos, in Erkenntnis der eigenen Lächerlichkeit. Das grandiose Ensemble lebt in seinen Rollen, Tiermenschen, getrieben von Geiz und Gier, am Rande der Zivilisation, der Sprengsatz der Gesellschaft.

 

Schauspiel Köln, Regie Johan Simons, Paul Koek: „Kasimir und Karoline“

von Ödön von Horváth. Koproduktion mit dem NT Gent und De Veenfabriek

Premiere 3. Dezember 2009

 

„Enjoy“ fordern die goldflittrigen Großbuchstaben, die in dieser Horváth-Inszenierung über der Bühne und einem flotten Opel-Automobil thronen, doch das Oktoberfest-Vergnügen und der sentimentalische Schmelz sind dem Stück gründlich ausgetrieben. Markus John als schmierhaariger Kasimir und Angelika Richter in der Rolle einer eher abgefeimten als smarten Karoline sind die Stars des Abends. Man sieht, dass Richters Karoline gern auf eine „höhere Stufe“ hinauf möchte, wie es bei Horváth heißt, denn sie spaziert gern in der ersten Etage der Neumann-Bühne bei den glitzernden „Enjoy“-Buchstaben herum. Sie spricht immer eine Spur zu kreischig in ihr Mikroport, um noch als liebes Flattermädchen durchzugehen. Markus Johns Kasimir ist ein Kraftkerl mit Zottelhaaren und Stoppelbart, der für einen Don Quichotte, mit dem er im Stück verglichen wird, entschieden zu gut genährt und zu grobianisch ist. Simons blickt mit dem gleichen kalten Blick auf Bonzen und Verlierer, er zeigt die Unterprivilegierten nicht als edle Theater-Schlachtrösser, sondern als echt wilde Unterschicht-Raubtiere und Rinnstein-Tölen. Bei ihm ist die Kapitalismuskritik keine Ranschmeiße an das Prekariat, sondern kluge, warmherzige und doch nahezu wissenschaftliche Einzelfallbetrachtung.

 

Münchner Kammerspiele, Regie Luk Perceval: „Kleiner Mann – was nun?“

von Hans Fallada

Premiere 25. April 2009

 

Percevals Adaption von Hans Falladas Roman ist nicht wie einst bei Peter Zadek eine schmissige Revue aus dem Berlin der zwanziger Jahre, sondern eine traurige, sehr bewegende Ballade über den Leidensweg eines jungen Paares während der Weltwirtschaftskrise. In der Mitte der Bühne steht ein altes Orchestrion, das an einen Flügelaltar erinnert. So wie die Lochstreifen auf der einen Seite des Musikschranks in dessen Inneres wandern, um ihn auf der anderen wieder zu verlassen, verschlingt der Moloch Berlin den arbeitslosen Johannes und sein Lämmchen und speit sie wieder aus. Luk Perceval erzählt ihre Geschichte wie eine Moritat, wobei Annette Paulmann als Lämmchen und Paul Herwig als Johannes das treuherzige Pathos des Paares ironisch abfedern, ohne jedoch das große Gefühl zu scheuen. Komödiantische Kontrapunkte setzen die Nebenfiguren, allesamt von Stamm- und Spitzenkräften des Ensembles gespielt. „Kleiner Mann – was nun?“ ist eindringliches, emotionales Erzähltheater und ein herausragendes Beispiel für eine fulminant gelungene Romanadaption.

 

Burgtheater, Wien, Konzept und Regie Kelly Copper & Pavol Liska / Nature Theater of Oklahoma: „Life and Times – Episode 1“

Uraufführung 7. September 2009

 

Selten ist Konzeptkunst so schräg und schön wie im Fall des Musicals, das die kleine New Yorker Off-Off-Truppe Nature Theater of Oklahoma in Kooperation mit der großen Wiener Burg inszeniert hat. Das Libretto von „Life and Times“ basiert auf einem 20-stündigen Telefonat, das die Regisseure Kelly Copper und Pavol Liska mit einer anonymen Künstlerfreundin geführt haben. Thema: deren bisheriges Leben, eine durchschnittliche US-Mittelstandsbiografie. Dieses Material, einschließlich aller „Ums“ und „You knows“ singen drei glückstrahlende Pfadfinderinnen, begleitet von einer Live-Kapelle und später unterstützt durch drei Burgherren, als wär’s ein nimmer endendes Kinderlied – und vollführen dazu rhythmische Gymnastik im Geist längst versunkener Spartakiaden. Text, Musik und Tanz bewegen sich herrlich autonom nebeneinander her und verwandeln die Selbst-Erzählung eines Künstlerindividuums in eine Kollektiv-Performance, in der sich überraschend viele der um 1970 Geborenen wiedererkennen dürften. Rein chronologisch kommt die Truppe übrigens nicht weit: Nach dreieinhalb Stunden ist die Ich-Erzählerin gerade mal sechs Jahre alt.

 

Burgtheater, Wien, Regie Roland Schimmelpfennig: „Der goldene Drache“

von Roland Schimmelpfennig

Uraufführung 5. September 2009

 

Weiß ist die Bühne, schwarz die Welt, die Roland Schimmelpfennig darauf entstehen lässt. In kurzen Episoden erzählt der Dramatiker und Regisseur von den Schattenseiten der globalisierten Welt, von Ausbeutung, Gier, Brutalität. Ein chinesisches Geschwisterpaar steht im Zentrum dieses hochgetakteten Theaterabends. Beide sind illegale Migranten, kämpfen ums Überleben und verlieren. Am Schluss ist die weiße Bühne blutverschmiert, zwei Tote sind zu beklagen, nebst der Gleichgültigkeit der Welt. Und dennoch ist „Der goldene Drache“ einer der komischsten Theaterabende dieser Saison. Denn Schimmelpfennig inszeniert seine rabenschwarze Sozialparabel mit geradezu erschreckend leichter Hand. Blitzschnell stellen fünf Schauspielerinnen und Schauspieler das Horrorkabinett des globalisierten Alltags auf die Bühne. Sie spielen mit komödiantischer Verve an die zwanzig Figuren in fliegenden Wechseln und sind alle gegen den Strich besetzt: Junge spielen Alte, Frauen Männer. Gekonnt hält der meistgespielte deutsche Dramatiker diesen Theaterabend als Regisseur in der Schwebe: Die verfremdenden Mittel sorgen für Distanz und erlauben einen neuen Blick auf altbekannte Ungerechtigkeiten. Oder ist hier etwa doch bloß Sozialkritik in homöopathischen Dosen zu sehen?

 

Wiener Festwochen, Regie Christoph Marthaler: „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“

Ein Projekt von Christoph Marthaler und Anna Viebrock

Uraufführung 10. Mai 2009

 

Nicht einmal das Auto hat die Krise den Männern gelassen. Sie hausen in leeren Garagen, wo nichts mehr anspringt, schon gar nicht der Wachstumsmotor. Die Frauen sitzen derweil in der Halle eines „Instituts für Gärungsgewerbe“, in dem garantiert nichts mehr gärt, und nehmen von den gepfändeten Möbeln herzzerreißend Abschied. Ihre Kreditlinie hat sich in Luft aufgelöst, der Schweizer Bankbeamte kriegt definitiv den Tresor nicht mehr auf. Ausweglosigkeit und Stillstand bildeten stets die Ingredienzien des Theaters von Christoph Marthaler und Anna Viebrock, doch noch nie war es der Realität näher auf den Fersen als in „Riesenbutzbach“. In dem globalen Dorf regiert ein beleibter „Gesangskontrolleur“, der die enteigneten Mittelständler auf die Höhen von Bach, Schubert, Mahler und Beethoven führt, wenn sie nicht gerade hinter dessen Rücken in der Garage zum Discokracher „Staying Alive“ abtanzen. Am Ende geht das deutsche Lied nicht mehr: Schuberts „Winterreise“ zerbröselt Christoph Homberger auf den Lippen. Triftiger und komischer kann man die Depression unserer Tage nicht formulieren.

 

Weitere Informationen unter www.theatertreffen-berlin.de

 

***

 

Eine außergewöhnliche Kooperation gehen das Theatertreffen/Berliner Festspiele, 3sat/ZDFtheaterkanal und das Sony Center am Potsdamer Platz ein. Zum ersten Mal werden im Mai 2010 die drei von 3sat/ZDFtheaterkanal aufgezeichneten Theatertreffen-Inszenierungen auf dem großen Screen im Sony Center am Potsdamer Platz gezeigt. Bei freiem Eintritt können Theaterliebhaber, Touristen und neugierige Passanten Teil des Theatertreffens werden.

 

Damit setzt das Sony Center seine Tradition der Public Viewings auch im Jahr seines 10jährigen Bestehens fort. Gerade bei den Übertragungen von Kultur-Highlights wurden in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht. Nach Konzertübertragungen und Filmevents folgt nun eine Auswahl der „bemerkenswertesten“ Theateraufführungen des deutschsprachigen Raums.

 

Gezeigt werden:

 

Fr 14. Mai 20.00 Uhr „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig, Regie: Roland Schimmelpfennig, Burgtheater Wien (Fernsehregie: Hannes Rossacher)

 

Sa 15. Mai 20.00 Uhr „Die Kontrakte des Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek

 

Regie: Nicolas Stemann; Thalia Theater, Hamburg, in Koproduktion mit dem Schauspiel Köln

 

(Fernsehregie: Harald Spieß)

 

So 16. Mai 17.00 Uhr „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ Ein Projekt von Christoph Marthaler und Anna Viebrock, Regie: Christoph Marthaler; Wiener Festwochen (Fernsehregie: Andreas Morell)

 

Mit den zahlreichen Cafés und Restaurants bietet das Sony Center bis zu 1.600 Plätze.

 

3sat/ZDFtheaterkanal ist zum 15. Mal Medienpartner des Theatertreffens und überträgt jedes Jahr einige ausgewählte Produktionen. Das Sony Center am Potsdamer Platz und das ZDF verbindet seit 2002 eine kontinuierliche und effektive Zusammenarbeit.

 

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Berliner Theatertreffen

Buchpräsentation am 19. Mai 2010

Haus der Berliner Festspiele, 16.00 – 18.00 Uhr, Kassenhalle

 

„Report Darstellende Künste“

Zur wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsrechtlichen Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland

 

Studien – Symposium - Diskurse

 

Der Fonds Darstellende Künste führte gemeinsam mit Wissenschaftlern und verschiedenen Institutionen wie dem Bundesverband Freier Theater und dem Internationalen Theaterinstitut die bisher umfangreichste Datenerfassung und mehrere Studien zur Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland durch. Daran beteiligten sich über 4.000 Akteure aus dem Bereich der darstellenden Künste.

 

Günter Jeschonnek, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste und Herausgeber des neuen Buches „Report Darstellende Künste“, präsentiert am 19. Mai 2010 Kernergebnisse der komplexen Untersuchungen.

 

Anwesend sind ebenfalls Harriet und Peter Meining von „norton.commander.productions und Monika Gintersdorfer/Knut Klaßen, die am 31. Mai 2010 den erstmals vergebenen „George-Tabori-Preis“ des Fonds Darstellende Künste erhalten.

 

Im Zentrum der Buchpräsentation und Diskussion stehen die fragilen und unsicheren Beschäftigungsverhältnisse von freien Theater- und Tanzschaffenden, die so etwas wie ein Seismograph für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sind und zu politischem Handeln auffordern.

 

 

 

 

 

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