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Wiener Staatsoper: "Eugen Onegin" von Piotr I. Tschaikowski

Premiere 25. Oktober 2020, 19.00 Uhr

Mit seinen 1879 durch ein Studentenensemble am Moskauer Maly (d.i. Kleinen) Theater uraufgeführten »lyrischen Szenen in drei Akten« verlässt Tschaikowski den für die Oper seiner Zeit weitgehend verbindlichen »großen Stil«: »Ich brauche keine Zaren, Zarinnen, Volksaufstände, Schlachten, Märsche … ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf den Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.«

 

Copyright: Lukas Gansterer

Ein solch intimes Drama fand der Komponist in Alexander Puschkins Versroman »Eugen Onegin« (1833), der als »Enzyklopädie des russischen Lebens« in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Darin schildert Puschkin meisterhaft das Leben der damals zeitgenössischen Gesellschaft in seiner ganzen Vielfalt. Mit seinem Titelhelden gestaltete er erstmals den später sogenannten »überflüssigen Menschen«, einen wiederkehrenden Archetyp der russischen Literatur.

Die Berühmtheit ihrer Vorlage stand der Rezeption der Oper zunächst einige Zeit im Weg – vor allem in Russland selbst. Diese wurde trotz unmittelbarer Wertschätzung ihrer Musik als Verballhornung eines Kulturdenkmals der Nationalliteratur wahrgenommen. Bei den Schriftstellern reichte die Ablehnung von Iwan Turgenjews entsetztem Brief an Tolstoi aus dem Uraufführungsjahr (»Stellen Sie sich vor: Puschkins Verse über die handelnden Personen diesen in den Mund gelegt!«) bis hin zu Vladimir Nabokov, der in den 1964 erschienenen Kommentaren zu seiner Übersetzung von Puschkins Roman nicht müde wird, Tschaikowskis »slapdash opera« (»Opern-schmarrn«) zu geißeln. Der Erfolg dieser gegenwärtig – neben dem »Boris Godunow« – wohl berühmtesten russischen Oper wurde hierdurch zunächst verzögert. Heute vermögen wir ihrer ästhetischen und dramaturgischen Autonomie, die sich nicht in ihren gewiss außerordentlichen musikalischen Schönheiten erschöpft, gerecht zu werden.

Ausgangspunkt für Tschaikowskis Bearbeitung war die berühmte Briefszene der Tatjana Lárina, einer Gutsbesitzerstochter, die sich aus der Enge ihrer Verhältnisse in literarische Phantasiewelten flüchtet. In ihrer Identi-fikation mit den Heldinnen der Briefromane wirft sie zugleich alle Spielregeln des Genres über den Haufen, indem sie als Frau den Dialog eröffnet und einem Mann ihre Liebe erklärt. Doch der ebenso gewandte wie bindungsunfähige Dandy Onegin, den eine Erbangelegenheit aus der Hauptstadt auf das den Lárins benachbarte Landgut geführt hat, weist ihre Liebe kühl zurück: Als Reaktion auf ihre leidenschaftliche Selbstoffenbarung hält er ihr eine Gardinenpredigt. An Tatjanas Namenstag macht er seiner schlechten Laune Luft, indem er seinen einzigen Freund und Vertrauten, den jungen Poeten Lenski provoziert und ihn dann nolens-volens im Duell erschießt. Danach reist er ziellos durch die Welt. Drei Jahre später begegnet er Tatjana als bewunderte Gastgeberin eines Petersburger Salons an der Seite eines hochgeehrten Generals wieder. Er erkennt, dass er das Glück seines Lebens versäumt hat. Aber nun ist es die immer noch verletzte, immer noch liebende Tatjana, die ihn zurückweist.

Die epische Vorlage führte zu durchaus besonderen, in der Opern-Tradition nicht bereitliegenden Lösungen. Dies ist bereits an der vom Komponisten gewählten Genrebezeichnung »Lyrische Szenen in drei Akten« ablesbar. Die locker gefügte Erzählweise bedingt, dass es kaum möglich ist, zwischen Haupt- und Nebenfiguren zu unterscheiden. Auch wenn die musikalischen Anteile der Partien unterschiedlich gewichtet sind, gilt die Aufmerksamkeit des Stückes ebenso Tatjanas lebenslustiger Schwester Olga, deren Verlobten Lenski und ihrer Mutter Lárina, es leiht der bitteren Lebensgeschichte von Tatjanas alter Amme ein Ohr und noch eine Episodenfigur wie der fatale Duell-Sekundant Saretzki werden präzise porträtiert; ein einziger Auftritt im letzten Akt genügt, um Tatjanas Ehemann Gremin beeindruckend Statur zu verleihen.

Der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov hat einen hermetischen klassizistischen Speisesaal geschaffen, in dem sich ein zeitloses inneres Geschehen abspielt. Zentrales Gestaltungselement ist ein langer Tisch. Als Ort des geteilten festlichen Lebensgenusses macht er die unaufhebbare Entfremdung der Figuren umso fühlbarer. Wir erleben, wie zwei Figuren von ihren Liebesleiden aus der Bahn geworfen werden: eine schon vor der Zurückweisung durch Onegin verstummte, nahezu hospitalisierte Tatjana und der Dichter Lenski, den der Verlust seiner Kindheitsliebe Olga, die sich innerlich von ihm abgewandt hat und ebenfalls in den Sog seines attraktiven Begleiters Onegin geraten ist, in das tödliche Duell mit seinem einst bewunderten Freund treibt.
In nahezu allen solistischen Rollen geben Vertreter einer jungen Sängergeneration, angeführt vom neuen Ensemblemitglied Tamuna Gochashvili als Tatjana und von Andrè Schuen als Onegin, ihr jeweiliges Hausdebüt. Dirigent der Neuproduktion ist Tomáš Hanus, der das Werk hier erstmals dirigiert.

Text Piotr I. Tschaikowski & Konstantin Schilowski nach Alexander Puschkin

Musikalische Leitung
Tomáš Hanus
Inszenierung und Bühne
Dmitri Tcherniakov
Kostüme
Maria Danilova
Licht
Gleb Filshtinsky
Ko-Kostümbildnerin
Elena Zaytseva
Assistenz Bühne
Ekaterina Mochenova
Regieassistenz
Torsten Cölle Igor Ushakov
Musikalische Einstudierung und Sprachcoach
Liubov Orfenova

Tatjana
Tamuna Gochashvili
Olga
Anna Goryachova
Eugen Onegin
Andrè Schuen
Lenski
Bogdan Volkov
Fürst Gremin
Dimitry Ivashchenko
Alte Dame zu Gast
Johanna Mertinz
Larina
Helene Schneiderman
Filipjewna
Larissa Diadkova
Saretzki/Hauptmann
Dan Paul Dumitrescu

Reprisen: 28., 31. Oktober, 3. und 6. November 2020

 

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